Wenn wir in Organisationen, Familienunternehmen und Bereichen tätig sind, dann arbeiten wir in Systemen. Wir haben eine bestimmte organisatorische Rolle inne und füllen diese mit unserer Persönlichkeit, unseren Wertvorstellungen und unserer Fachkompetenz aus.
Das erste System, das Menschen in der Regel erleben, ist das System der eigenen Familie. Dort erleben wir Beziehungen, lernen z.B. was man tut und nicht tut und wie Konflikte gelöst werden. Wir erleben, welcher Grad an Aufmerksamkeit uns geschenkt wird und passen uns mit frühkindlichen Entscheidungen an diese Familienmuster an, um zugehörig zu sein.
Wir entwickeln positive und einschränkende Glaubenssätze und erleben elterliche Fürsorge und elterliche Macht. Wir nehmen an unseren engsten Bezugspersonen im Familiensystem wahr, wann unser Verhalten dazu führt, dass wir geliebt werden und welches Verhalten dazu führt, dass wir bestraft werden. Unterschiedliche Kinder können in demselben Familiensystem durchaus unterschiedlich reagieren und bezüglich ihres Verhaltens unbewusst unterschiedliche Entscheidungen treffen. Ob ich mich der elterlichen Macht widersetze und rebellisches Verhalten zeige oder ob ich mich anpasse und meine eigenen Bedürfnisse zurückstelle, hat Auswirkungen auf unser Verhalten als Erwachsene.
Oft übertragen wir unsere im Familiensystem gemachten Erfahrungen auf Systeme, in denen wir als Erwachsene leben (Paarbeziehungen und die eigene Familie) und arbeiten (Unternehmen, Bereich, Abteilung, Team).
Wenn wir unser Familiensystem als grundsätzlich konstruktiv erlebt haben, getragen von Ermutigung und Förderung unserer Autonomie, aber auch Schutz und Geborgenheit gebend, dann verhalten wir uns in unserer beruflichen Rolle meistens ähnlich konstruktiv und können sowohl in der Führungsrolle als auch in einer untergeordneten Rolle gut agieren.
Wenn das Familiensystem unsere Entwicklung nicht optimal unterstützt hat und wir darin eine bestimmte (ungeliebte) Rolle inne hatten, oder Rivalität nicht bewältigen konnten, dann neigen wir später möglicherweise dazu, bestimmte Muster zu re - inszenieren und die berufliche Rolle entsprechend auszugestalten.
So erleben wir in Organisationen klassische Übertragungen nach dem Familienmodell, z.B. Geschwisterübertragungen zwischen Teammitgliedern, übertragungsbasierte Macht-
und Rivalitätsdynamiken in Führungsteams sowie hierarchieübergreifende Vater-/Mutter-Übertragungen.
Die Transaktionsanalyse spricht von einem unbewussten Lebensplan, den wir als Kind in Anpassung an unser Familiensystem entschieden haben. Dieser auch Skript genannte Lebensplan basiert auf Zuschreibungen und Einschärfungen, die wir als Kinder implizit oder explizit gehört, gesehen oder gespürt haben.
Und wir zeigen in ähnlichen Situationen auch später sogenanntes Antreiber-Verhalten, das einerseits Ressourcen beinhaltet, andererseits unser
Denken, Handeln und Fühlen einschränken kann.
Beispiele:
1. Martin hatte einen autoritären Vater und agiert in seiner Führungsrolle als Abteilungsleiter eher patriarchalisch und dominant. Er ist gefürchtet, da er seine Mitarbeitenden bevormundet und wenig bis keine Verantwortung überträgt. Wenn seine Erwartungen nicht erfüllt werden, wird er laut und führt seine Mitarbeitenden auch vor anderen schon mal vor. Martin wiederholt unbewusst Situationen, die er als Kind erlebt hat. Er hat Verhaltensmuster seines Vorbilds Vater übernommen und er ist überzeugt davon, dass ihm sein Verhalten Macht und Ansehen verleiht. Damit kompensiert er unter Umständen frühere Beschämung und Ohnmachtsgefühle, die er gegenüber seinem Vater erlebt hat. Und blendet diese bei sich selbst aus, denn er will sie nie wieder erleben. Martin kam in ein Coaching, da die Geschäftsleitung ihm bedeutet hat, dass er seinen Führungsstil menschenorientierter gestalten müsse, wenn er Führungskraft bleiben wolle.
2. Michael hatte auch einen autoritären Vater und arbeitet sich als Sachbearbeiter an seiner Führungskraft ab. Er widerspricht Entscheidungen seines Chefs häufig, verdreht in Teambesprechungen und Gesprächen die Augen und stänkert nach Meetings bei den Kollegen gegen den Chef. Wenn der Chef ihn direkt anspricht, reagiert er nett, eher überangepasst und nimmt Aufträge widerspruchslos entgegen. Er opponiert nur, wenn der Chef ihm den Rücken kehrt. Das hat er früher auch so in seiner Familie gemacht. Da sein Vater cholerische Züge hatte, reagierte er sehr angepasst, um der Strafe zu entgehen. Wenn der Vater aus dem Haus war, zeigte Michael rebellisches Verhalten und eine jetzt-erst-recht-Mentalität. Er hat es auch später nicht gelernt, aus seiner beruflichen Rolle heraus mit „Rollenautorität“ umzugehen, sondern muss sich dagegen auflehnen.
3. Beates voll berufstätige Eltern spannten sie schon mit 8 Jahren in die Betreuung ihrer jüngeren Geschwister ein und betrauten sie mit (zu) viel Verantwortung. Beates eigene Wünsche und Bedürfnisse kamen oft zu kurz, sie fühlte sich von ihren Eltern nicht wahrgenommen. Diese waren froh, wenn sie abends ihre Ruhe hatten und die jüngeren Kinder schon im Bett waren. Beate war wütend und eifersüchtig auf ihre Geschwister, da die Kleineren von den Eltern mehr beachtet wurden. Sie fühlte sich selbst nicht gesehen. Heute als Assistentin in einem weiblichen Arbeitsteam ist ihr Verhalten sowohl für die Führungskraft als auch die Teammitglieder schwierig. Beate möchte über alles informiert sein und reagiert aufgebracht, wenn ihr nicht jeder Schritt der Kollegen vorher bekannt war. Sie möchte einerseits Kontrolle ausüben, da sie dieses Muster aus der frühen Kindheit kennt und ihr dies Sicherheit gibt. Sie spricht in unangemessenem Befehlston mit ihren Kolleginnen und jede neue Kollegin wird von ihr erstmal ausgegrenzt und im Team und bei der Führungskraft schlecht gemacht. Andererseits bemüht sie sich sehr um positiven Kontakt zu ihrer Führungskraft und wünscht sich deren Anerkennung. Sie streitet mit ihren Teamkollegen, wenn diese Grenzen ziehen und Beate das Feedback geben, dass sie übergriffig ist. Beate reagiert dann beleidigt und sehr aggressiv, in dem sie die Kollegen auch mal lautstark anschreit und beschimpft. Die Führungskraft hat dies zum Thema gemacht und bei Beate anderes Verhalten eingefordert.
4. Stefan ist Abteilungsleiter in einer Spedition. Er führt ein Team von 12 Mitarbeitenden. In seinem Team ist eine Mitarbeiterin, die sehr kompetent, und leistungsorientiert ist und eine starke Persönlichkeit hat. Sie arbeitet gern, ist im Team angesehen und wird häufiger um Rat gefragt. Stefan fühlt sich von ihrer Souveränität verunsichert und versucht sie im Team durch neue Arbeitsinhalte etwas zu isolieren. Auch hält er sie von der Geschäftsleitung fern, die sie für die Übernahme einer weiterführenden Aufgabe im Auge hatte. Stefan stellt ihr eine schlechte Potenzialaussage aus, die es der Geschäftsleitung schwer möglich macht, sie zu befördern. Die Mitarbeiterin lässt sich dadurch nicht beirren und sucht immer wieder den Kontakt auch zu ihm als ihrem Chef. Stefan weicht aus, in Teammeetings weicht er dem Blickkontakt aus und die Termine für die Einzelgespräche legt er weiträumiger als mit den anderen Kollegen. Er versucht, einen weniger kompetenten Kollegen als Gegenpart aufzubauen und setzt die beiden immer wieder einem „Wettbewerb“ aus. Mit seinem Coach hat Stefan erarbeitet, dass die kompetente Mitarbeiterin ihn in Verhalten und Aussehen an seine große Schwester erinnert, der er sich angesichts ihres 1er-Abiturs, Prädikatsexamens und ihrer Beliebtheit immer unterlegen gefühlt hat. So erkannte er selbst, dass sein Augenverdrehen, selbst wenn die Mitarbeiterin mit guten Nachrichten in sein Büro kam, mehr mit ihm zu tun und eine ungesunde Dynamik hatte. Stefan hat die Mitarbeiterin empfohlen, als eine andere Abteilungsleitung im Unternehmen frei wurde. Heute arbeitet er mit ihr auf gleicher Ebene, spürt immer noch die Konkurrenz, kann diese durch Bewusstheit aber viel besser steuern.
5. Klaus ist ein gutaussehender Mitvierziger und zeichnet sich durch Intelligenz, Humor und Charme aus. Er schafft es, seine Mitarbeitenden morgens mit einem flotten Auftritt zu motivieren und verbreitet gute Laune. Die Frauen arbeiten gern für ihn und bewegen sich zwischen Schwärmerei und großer-Bruder-Mentalität. Aufgrund seiner ausgeprägten Empathie sehen ihn die männlichen Teammitglieder nicht als Konkurrenz, sondern eher als Vorbild und Kumpel. Nur Frank tut sich schwer. Frank hatte einen tollen älteren Bruder, der von allen bewundert und geliebt wurde und Frank fühlte sich immer zurückgesetzt. Wenn Frank heute in einem Umfeld und in Beziehungen lebt, die seine familiäre Erfahrung „heilen“ konnten, wird ihm diese Konstellation nicht so viel ausmachen. Wenn er sich jedoch immer noch zurückgesetzt fühlt, könnte er diese „Bruder-Rivalität“ auf seinen Chef übertragen.
Wir sehen also, dass wir manches Muster, das wir im beruflichen Kontext erleben, aus unserer Ursprungsfamilie mitbringen und eine Übertragung auf den Chef, die Kollegin oder den Mitarbeitenden stattfindet. Auch unsere Kollegen und unsere Führungskräfte können Familienmuster mitbringen und manchmal passen die Übertragung und Gegenübertragung sogar gut zusammen.
Die Übertragung verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und macht deutlich, welchen Einfluss vergangene Konflikte und Erlebnisse auf unser gegenwärtiges Leben und Beziehungen haben können. In der Übertragung wird eine unbewusste Erinnerung und eine damit verbundene innere Szene auf eine aktuelle Beziehung übertragen (z.B. die Vater-/Mutter-Übertragung auf den Chef oder die Chefin). Und jede Übertragung enthält eine manipulative Macht, das Gegenüber durch sein eigenes Verhalten zu einer Reaktion zu bringen, die zu dieser Szene gehört und das eigene Verhaltensmuster bestätigt. Die objektive Realität wird durch die individuelle Wahrnehmung also verzerrt. Die Transaktionsanalyse spricht von psychologischen Spielen, mit denen wir alte Muster wiederaufleben lassen, über den Einstieg in ein Spiel aus unserer bevorzugten „Rolle“ z.B.
als Opfer ( „Ich Armer, immer kriege ich die Zusatzaufgaben“ oder „immer werde ich benachteiligt“),
als Verfolger ( „Hab ich Dich....“ oder „Nie kannst Du etwas richtig machen“) oder
als Retter „Das kannst Du nicht, lass mich das machen“ oder „Ich zeige Dir mal, wie das geht“).
Und wir holen uns über den Spielverlauf das bekannte Gefühl ( die Auszahlung) am Ende des Spiels, das wir von früher her kennen ( z. B. „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich kann es nicht“ oder „niemand mag mich“ oder „ich gehöre nicht dazu“), denn unser Verhalten zielt genau daraufhin ab.
Natürlich hat nicht jeder Konflikt am Arbeitsplatz mit den Erfahrungen in der Familie zu tun. Manchmal stimmt einfach die Chemie zu den Kollegen oder zur Führungskraft nicht, der Chef hat narzisstische Züge oder die Kollegin ist nur bedingt teamfähig. Manchmal stimmt auch die kulturelle Passung nicht, diese kann sich auf die Unternehmenskultur oder die Abteilungskultur beziehen.
Wer zum Beispiel lange in einem kleinen Familienunternehmen gearbeitet hat, tut sich in einem unpersönlicheren Konzern schwer. Wer beruflich in einem Konzern gearbeitet hat, dem bleibt die Welt eines kleinen Betriebes, in der jeder jeden kennt und sich mit Handschlag begrüßt, fremd. Er oder sie kann sich zwar darauf einstellen, ein Unbehagen bleibt möglicherweise.
Hinterfragen Sie Ihre Situation oder Ihre Team-/Beziehungen am Arbeitsplatz:
- Gibt es bei mir ein Muster, das sich durch verschiedene berufliche Stationen zieht?
- Komme ich immer wieder mit dem Chef/der Chefin aus ähnlichen Gründen nicht klar?
- Welche wiederholten Konflikte habe ich in Teams?
- Gibt es Kollegen-Typen, an denen ich mich immer wieder reibe?
- Habe ich als in unterschiedlichen Teams vergleichbares Feedback zu meinem Verhalten bekommen?
- Habe ich ähnliche Rückmeldungen von unterschiedlichen Vorgesetzten bekommen?
- Welche Persönlichkeiten in meinem Team oder unter meinen Mitarbeitenden schätze ich sehr und mit welchen komme ich weniger zurecht?
- Gibt es diesbezüglich ein Muster oder Parallelen zu meiner Familie?
- Welche Lieblings-Gefühle hege ich am Arbeitsplatz?
- Fühle ich z.B. regelmäßig Verantwortung, Konkurrenz, starken Druck, fühle ich mich geschätzt und wahrgenommen oder regelmäßig übersehen?
- Bemühe ich mich immer sehr darum, gesehen zu werden und bin gekränkt, wenn ein Kollege die erste Geige spielt oder bessere Ergebnisse hat?
- Bin ich (über) angepasst und versuche es recht zu machen oder bin ich eher rebellisch und opponiere gegen Entscheidungen von „oben“?
Schauen Sie bezüglich Ihrer Antworten genau hin, ob eine Übertragung vorliegen könnte. Bewusstheit ist der erste Schritt, ein Muster zu durchbrechen. Reflexion und Einüben neuer Verhaltensoptionen sind weitere Schritte.
Insbesondere für Führungskräfte ist Bewusstheit wichtig für die Beziehung zu ihren Mitarbeitenden.
Nur wenn ich meine persönlichen Muster kenne, kann ich im Interesse des Unternehmens angemessen fördern und fordern und arbeite mich nicht in Kompensation vergangener Erlebnisse an einzelnen Mitarbeitenden und Kollegen oder am Chef ab. Und für den Einzelnen im Team ist es ebenfalls wichtig, sich zu hinterfragen, was Übertragung damit zu tun haben könnte, wenn er oder sie trotz hoher Kompetenz und Soft Skills einfach nicht angemessen gefördert wird – manchmal hilft es genau dann, die Abteilung und die Führungskraft zu wechseln.
Sie haben Fragen, wünschen ein Team-/Coaching oder wollen an einer Fortbildung teilnehmen?
Sprechen Sie mich an.
Ihre Kathrin Rehbein
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